Veranstaltung: | 51. Bundesdelegiertenkonferenz Hannover |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Niklas Wagener (KV Aschaffenburg-Stadt) und 88 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 39%) |
Status: | Eingereicht |
Angelegt: | 15.10.2025, 13:13 |
V-61: Wenn alle mit anpacken - für ein Gesellschaftsjahr!
Antragstext
Bündnis 90/Die Grünen fordert die Einführung eines Gesellschaftsjahres für alle.
Dieses soll nach Abschluss der Vollzeitschulpflicht beginnen können und
grundsätzlich bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres absolviert werden (in der
Bundeswehr frühestens mit 18 Jahren). Mit einem Rechtsanspruch auf einen
Gesellschaftsdienst für alle Geschlechter und alle Generationen, auch über das
Rentenalter hinaus, wird sichergestellt, dass alle, die etwas für die
Gesellschaft tun wollen, dies auch tatsächlich können. Die Dauer des Dienstes
beträgt mindestens neun Monate und kann bis zu zwölf Monate umfassen. Der Dienst
kann flexibel gestaltet werden, sowohl am Stück als auch in gestreckter Form, um
individuelle Lebensplanungen und die Vereinbarkeit mit Ausbildung, Studium und
Beruf zu berücksichtigen.
Die Teilnehmenden können ihren Einsatzbereich frei wählen. Das Gesellschaftsjahr
gliedert sich in drei Bereiche. Der erste Bereich ist der Wehrdienst, der an
bestehende Strukturen der freiwilligen Wehrdienste anknüpft und so einen Beitrag
zur Verteidigungsbereitschaft Deutschlands leistet. Der zweite Bereich ist der
Bevölkerungsschutz, der die Stärkung der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerks,
der Rettungsdienste, des Katastrophenschutzes sowie des Schutzes kritischer
Infrastrukturen umfasst. Der dritte Bereich ist der Gesellschaftsdienst, der
Tätigkeiten in sozialen, ökologischen, kulturellen und sportlichen
Einrichtungen, in Schulen, Pflegeeinrichtungen, Jugendarbeit, im internationalen
und europäischen Austausch oder in Klima- und Naturschutzprojekten beinhaltet.
Wer bereits einen Wehr- oder vergleichbaren zivilen Freiwilligendienst
abgeleistet hat oder in verantwortlicher Position ehrenamtlich tätig ist, kann
sich diesen Dienst anrechnen lassen. Damit wird vermieden, dass diejenigen, die
sich bereits eingebracht haben, doppelt belastet werden. Der Dienst soll
generationenübergreifend angelegt sein und sich nicht nur an junge Menschen
richten. Auch ältere Jahrgänge sollen die Möglichkeit haben, freiwillig ihre
Kompetenzen einzubringen und einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Auf
diese Weise wird der Zusammenhalt zwischen den Generationen gestärkt und eine
Brücke zwischen unterschiedlichen Lebenswelten geschlagen.
Die BDK beauftragt die Bundestagsfraktion, auf die Einsetzung einer
Enquetekommission hinzuwirken. Die Kommission prüft ergebnisoffen
verfassungsrechtliche Optionen (insbes. Art. 12a GG / eigenständige Norm),
unions- und menschenrechtliche Vorgaben sowie gleichstellungsrechtliche
Anforderungen und legt dem Bundestag binnen zwölf Monaten konkrete
Handlungsempfehlungen vor. Etwaige Grundgesetzänderungen werden erst auf Basis
dieser Empfehlungen bewertet.
Wir leben in einer Zeit multipler Krisen und Herausforderungen. Die Folgen des
Klimawandels sind in Form von Dürren, Starkregenereignissen und Waldbränden
unmittelbar spürbar. Gleichzeitig bedrohen geopolitische Konflikte, wie der
russische Angriffskrieg auf die Ukraine, unsere Sicherheit in Europa. Hinzu
kommen hybride Bedrohungen wie gezielte Desinformationskampagnen und
Einflussnahmen auf unsere Gesellschaft. Auch die innenpolitische Lage zeigt eine
zunehmende Polarisierung, die sich in verbitterten Debatten, Angriffen auf
demokratische Politiker:innen und einem wachsenden Misstrauen gegenüber
Institutionen äußert. Unsere Demokratie, unser gesellschaftlicher Zusammenhalt
und unsere Freiheit stehen damit unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Die Herausforderungen sind jedoch nicht nur von außen bestimmt. Auch unsere
alternde Gesellschaft bringt neue Aufgaben mit sich. Vereinsamung,
Pflegebedürftigkeit und die Sicherung der Daseinsvorsorge sind Fragen, die nicht
allein durch staatliche Institutionen beantwortet werden können. Vielmehr bedarf
es eines neuen Gemeinschaftsprojekts, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt
stärkt und Menschen wieder in Berührung miteinander bringt. Ein
Gesellschaftsjahr ist hierfür das richtige Instrument, das Stadt und Land, Jung
und Alt verbindet.
Ein Gesellschaftsdienst kann Menschen aller Generationen vermitteln, dass
Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind, sondern eine Aufgabe, die
wir alle gemeinsam tragen müssen. Durch die Vielfalt der möglichen
Einsatzbereiche können individuelle Interessen und Kompetenzen berücksichtigt
werden. Ob technikbegeistert im Bevölkerungsschutz, mit sozialem Engagement in
Pflegeeinrichtungen oder voller Leidenschaft in der Jugendarbeit – der Dienst
eröffnet allen eine Möglichkeit, sich sinnvoll einzubringen. Dadurch entsteht
eine neue Form des Zusammenhalts, die Polarisierung entgegenwirkt, Brücken
zwischen sozialen Milieus baut und generationenübergreifendes Verständnis
fördert.
Zugleich trägt das Gesellschaftsjahr zu einem erweiterten Verständnis von
Sicherheit bei. Sicherheit ist mehr als militärische Stärke. Sie umfasst auch
den Schutz kritischer Infrastrukturen, die Resilienz gegenüber
Naturkatastrophen, eine solidarische Daseinsvorsorge sowie die ökologische
Stabilität unserer Lebensgrundlagen. Mit einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr
leisten wir daher einen Beitrag zu einer umfassenden Gesamtverteidigung unserer
liberalen Gesellschaftsordnung und zu einer Stärkung der einer solidarischen und
resilienten Zivilgesellschaft.
Wir sind uns bewusst, dass eine solche Debatte über gesellschaftliche
Verantwortung kontrovers ist. Sie berührt individuelle Freiheit und verlangt
nach sorgfältiger politischer Abwägung und breitem gesellschaftlichem Konsens.
Doch gerade in Zeiten, in denen unsere Demokratie von innen wie außen bedroht
ist, brauchen wir eine gemeinsame Antwort. Diese Pflicht ist kein Selbstzweck,
sondern ein Gemeinschaftsprojekt für die Freiheit, die Demokratie und die
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Wir sind überzeugt: Die Investition in
Zusammenhalt, Resilienz und Demokratie lohnt sich – gerade jetzt.
Bündnis 90/Die Grünen erkennen an, dass ein Gesellschaftsjahr unter den
aktuellen Bestimmungen des Grundgesetzes nur begrenzt möglich ist. Daher
erklären wir ausdrücklich: Wir sind bereit, an einer erforderlichen verfassungs-
und europarechtlich fundierten Weiterentwicklung des Grundgesetzes sorgfältig
mitzuwirken, wenn dadurch eine moderne, geschlechtergerechte und
gesellschaftlich ausgewogene Verantwortungspflicht geschaffen werden kann – auf
Basis von Gleichberechtigung, eines Geistes des Miteinanders und sozialer
Gerechtigkeit.
Freiwilligkeit stärken: Wir wollen die bestehenden Freiwilligendienste – vom FSJ
und FÖJ über den Bundesfreiwilligendienst bis hin zum freiwilligen Wehrdienst –
mit einem Sofortprogramm deutlich ausbauen und attraktiver gestalten. Dazu
gehören mindestens 100.000 zusätzliche Plätze, eine faire, existenzsichernde
Vergütung, soziale Absicherung, Anrechnung auf Ausbildung, Studium und Rente
sowie der Abbau bürokratischer Hürden. Auch der freiwillige Wehrdienst soll mit
Schwerpunkten in Reserve, Sanitätsdienst, Cyberabwehr und Zivil-Militärischer-
Kooperation gestärkt werden. Angesichts der Warnungen der NATO und des
Generalinspekteurs der Bundeswehr, wonach Russland ab 2029 wieder über offensive
Fähigkeiten gegen NATO-Staaten verfügen könnte, darf Deutschland keine Zeit
verlieren.
Bündnis 90/Die Grünen unterstützt in dieser Phase die Bemühungen der
Bundesregierung, mehr Freiwillige für die Bundeswehr zu gewinnen, fordert aber
die Gleichstellung der bisherigen Freiwilligenprogramme im sozialen und
ökologischen Bereich mit der des freiwilligen Wehrdienstes. In den zu
verschickenden Fragebögen sollte gleichberechtigt auf alle Freiwilligendienste
hingewiesen werden. Durch eine faire Vergütung wollen wir kurzfristig mehr
Menschen für den Dienst an der Gesellschaft gewinnen.
Enquetekommission einsetzen: Noch im Jahr 2025 soll der Deutsche Bundestag eine
Enquetekommission „Gesellschaftsjahr – Verantwortung, Sicherheit und
Zusammenhalt im 21. Jahrhundert“ einsetzen. Sie soll innerhalb von zwölf Monaten
(bis Ende 2026) rechtlich tragfähige, gesellschaftlich ausgewogene und
administrativ umsetzbare Modelle für eine verbindliche Form gesellschaftlicher
Verantwortung entwickeln. Ihr Auftrag umfasst insbesondere die Prüfung
verfassungsrechtlicher Optionen (einschließlich einer möglichen Änderung des
Grundgesetzes), unions- und menschenrechtlicher Fragen, Organisations- und
Finanzierungsmodelle, die Ausgestaltung von Wahlfreiheit und Vielfalt der
Einsatzfelder sowie Maßnahmen zur Stärkung von Demokratiekompetenz und Teilhabe.
In die Arbeit der Kommission sollten Jugendvertretungen, Schüler:innenräte und
Freiwilligendienstleistende verbindlich eingebunden werden. Außerdem sollte die
Kommission prüfen, wie einschlägige Ausbildungen in gesellschaftsfördernden
Berufen anerkannt werden können.
Perspektiven eröffnen: Auf Grundlage der Empfehlungen der Enquetekommission soll
2027 ein Gesetzentwurf erarbeitet werden, der eine verbindliche Form
gesellschaftlicher Verantwortung schafft. Eine Pilotphase soll 2028 starten und
schrittweise zu einer breiten Einführung eines Gesellschaftsjahres führen.
Dieses soll sowohl militärische, als auch zivile Einsatzfelder umfassen und mit
europäischen Programmen wie Erasmus+ oder dem Europäischen Solidaritätskorps
verknüpft werden können.
Über die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die gesellschaftliche
Ausgestaltung und die rechtlichen Instrumente soll die Enquetekommission
Empfehlungen erarbeiten, auf deren Grundlage ein neues Modell entstehen kann,
das auf breitem gesellschaftlichem Konsens und demokratischer Legitimation
basiert.