Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | BAG Demokratie und Recht (dort beschlossen am: 28.09.2019) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 04.10.2019, 14:48 |
V-31: Prinzip der europäischen Spitzenkandidat*innen absichern, europäische Demokratie stärken, verfassungsgerichtliche Kontrolle respektieren
Antragstext
Prinzip der europäischen Spitzenkandidat*innen absichern, europäische Demokratie stärken,
verfassungsgerichtliche Kontrolle respektieren
Die Umstände der Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen Präsidentin der EU- Kommission
haben gezeigt, dass das Prinzip der europäischen Spitzenkandidat*innen rechtlich abgesichert
werden muss. Das Prinzip garantiert, dass sich alle Kandidat*innen für das wichtigste Amt
der Europäischen Union den Wählerinnen und Wählern zur öffentlichen Prüfung stellen müssen.
Das ist ein riesiger Fortschritt für die Europäische Demokratie, den wir erhalten und
ausbauen wollen. Wir begrüßen die Pläne der neuen Kommissionspräsidentin, bis Mitte 2020
legislative Vorschläge für eine Verbesserung und Europäisierung der Europawahl vorzulegen.
Eine mögliche Stärkung des Spitzenkandidat*innenprinzips wäre die Festlegung, dass nur
Mitglieder des Europäischen Parlaments durch dieses als Präsident*in der EU-Kommission
vorgeschlagen werden können. Es würde das Parlament und die Bindung der EU-Kommission an die
Europawahl weiter stärken, wenn auch Kommissar*innen nur aus der Mitte des Parlaments
vorgeschlagen werden. Das Spitzenkandidat*innenprinzip ist das beste Argument gegen die
Verleumdung der EU-Kommission als ungewählte Technokraten.
Die effektivste Möglichkeit zur Stärkung des Spitzenkandidat*innenprinzips bieten
transnationale Listen, die von den europäischen Parteien aufgestellt und von den
Spitzenkandidat*innen angeführt werden. Länderübergreifende Listen stärken nicht zuletzt
auch die Sichtbarkeit der europäischen Parteien und können zum Aufbau einer EU-weiten
Öffentlichkeit beitragen. Eine zweite Stimme bei der Europawahl für transnationale Listen
bedeutet mehr europäische Demokratie. Nationale Parteien haben den Wählern dann zu erklären,
welcher europäischen Parteifamilie sie angehören und welche Spitzenkandidat*in sie
unterstützen. Sie bietet den Parteien einen starken Anreiz, EU-weite Programme zu entwerfen
und die Bürger und Bürgerinnen in der gesamten Europäischen Union anzusprechen. Die
nationalen Parteien müssen sich endlich grundlegend Richtung Europa öffnen und sich an einer
echten europäischen Parteiendemokratie und an einer Stärkung der Rolle des Europäischen
Parlaments als Haus der europäischen Demokratie beteiligen. Die Aufstellung transnationaler
Wahllisten ist dafür der beste Katalysator. Die Verwendung der europäischen Parteinamen und
-logos gemeinsam mit den nationalen auf Stimmzetteln, auf Postern und Kampagnenmaterial wäre
die logische Folge transnationaler Wahllisten, sollte aber auch unabhängig davon Ausdruck
des europäischen Charakters von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden. Das Bekenntnis als
Europapartei steht uns auch bei Wahlen im Bund, in Ländern und Kommunen gut zu Gesicht.
Ein neues europäisches Wahlrecht sollte darüber hinaus auch sicherstellen, dass bei der
Listenaufstellung demokratische Mindeststandards eingehalten und wenigstens die Hälfte der
Sitze an Frauen vergeben werden. Zudem braucht es verbindliche Transparenzregeln für die
Parteienfinanzierung. Wir streben an, Spenden an Parteien in der Höhe und auf natürliche
Personen zu beschränken. Das Wahlalter sollte in keinem Mitgliedstaat höher als 16 Jahre
liegen.
Diesen Anforderungen an eine EU-Wahlrechtsreform wird die von der Bundesregierung auf
europäischer Ebene betriebene Änderung des EU- Direktwahlakts, die im vergangenen Jahr gegen
den Widerstand der Grünen im Europäischen Parlament beschlossen worden war, in keiner Weise
gerecht. Stattdessen dient die Änderung lediglich dazu, dem Bundesverfassungsgericht die
Möglichkeit zu nehmen, eine Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz an der
Wahlrechtsgleichheit des Grundgesetzes zu messen. Wahlrechtsfragen sind immer auch
Machtfragen. Gerade deshalb ist eine strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle bei der
Ausgestaltung des Wahlrechts sinnvoll und zu respektieren. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen die
Änderung des EU-Direktwahlakts in der vorliegenden Form ab.
Begründung
Auf Bitte der neuen Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen soll ihre designierte Kommissarin Dubravka Šuica Věra Jourová ab 2020 für zwei Jahre eine Konferenz über die Zukunft Europas organisieren. Mit dieser Konferenz soll die designierte Vizepräsidentin Vera Jourova schon bis Mitte 2020 legislative Vorschläge machen, die europäische Spitzenkandidat*innen und transnationale Wahllisten behandeln. Parallel steht in Bundestag und Bundesrat derzeit noch die Ratifizierung der letzten EU-Wahlrechtsänderung aus. Diese BDK ermöglicht es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zu beiden Themen Stellung zu nehmen.
Die letzte, in Deutschland noch nicht ratifizierte Änderung des EU-Wahlrechts, wurde am 13. Juli 2018 vom Rat der Europäischen Union nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen. Die (einzige) wesentliche Neuerung besteht darin, dass Mitgliedstaaten, in denen mehr als 35 Sitze pro Wahlkreis vergeben werden, eine Mindestschwelle von 2 bis 5 % für die Sitzvergabe festlegen müssen. Die Mitgliedstaaten müssen diese Verpflichtung spätestens bis zur zweiten Wahl nach dem Inkrafttreten der Änderung umsetzen. Sie tritt aber nur dann in Kraft, wenn sie zuvor in allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. In Deutschland ist dazu eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Nachdem wir Grüne zu Jahresbeginn 2019 signalisiert hatten, dass wir so kurz vor der Europawahl keine Wahlrechtsänderung mittragen werden, steht die Ratifizierung in Deutschland weiterhin aus und könnte jederzeit von der großen Koalition auf die Tagesordnung gesetzt werden. Es ist daher angebracht, dass wir uns als Partei in dieser Frage positionieren.
Die beschlossene Mindestschwelle betrifft außer Deutschland nur Spanien, da alle anderen Mitgliedstaaten entweder bereits eine entsprechende Mindestschwelle praktizieren oder über keine Wahlkreise mit mindestens 35 Sitzen verfügen. Hintergrund dieser Initiative deutscher EP-Abgeordnete ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel im Europawahlgesetz. Mit Urteil vom 9. November 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht die bis dahin geltende Fünf-Prozent-Hürde für verfassungswidrig und nichtig erklärt, da der mit der Sperrklausel verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen sei. Nachdem der Bundestag daraufhin eine Drei-Prozent-Sperrklausel beschlossen hatte, erklärte das Gericht mit Urteil vom 26. Februar 2014 auch diese Mindestschwelle für verfassungswidrig und nichtig. Das Bundesverfassungsgericht begründete seine Entscheidung mit den Besonderheiten der Arbeitsweise des Europäischen Parlaments. Insbesondere hob es die große Integrationskraft der Fraktionen hervor, in denen sich die über 160 im Parlament vertretenen Parteien zusammenfinden. Tatsächlich haben nach Wegfall der Sperrklausel auch mit uns konkurrierende nationale Parteien wie die Piraten, die ÖDP, die PARTEI und Volt in der Fraktion Grüne/EFA ihren Platz gefunden und wären von einer 2-%-Sperrklausel unmittelbar betroffen.
Ungeachtet der Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel bei Europawahlen verfassungsrechtlich überzeugend oder rechtspolitisch wünschenswert ist, ist die Art und Weise abzulehnen, wie hier mit einer missliebigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umgegangen wird. So lange das in Art. 223 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU vorgesehene einheitliche Wahlverfahren in allen Mitgliedstaaten nicht realisierbar ist, sollte es weiterhin Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts bleiben, eine vom deutschen Gesetzgeber beschlossene Sperrklausel dahingehend zu prüfen, ob die damit verbundene Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Zwar hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe des Gesetzgebers zu übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen oder eigene Zweckmäßigkeitsbeurteilungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle.“
Abgesehen von der kritikwürdigen Mindestschwelle enthält die beschlossene Änderung des EU-Direktwahlakts keine bedeutenden Regelungen, die einer Ablehnung in Bundestag und Bundesrat entgegenstehen. Während sich der Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments am 23. Januar 2018 zur Stärkung der europäischen Demokratie noch für die Schaffung von transnationalen Listen ausgesprochen hatte, sind diese in der letztlich beschlossenen Fassung nicht mehr vorgesehen. Auch andere grüne Forderungen wie geschlechterquotierte Listen oder eine Absenkung des Wahlalters sind im Laufe des Gesetzgebungsprozesses gestrichen worden.
weitere Antragsteller*innen
Änderungsanträge
- V-31-005 (Franziska Brantner (KV Heidelberg), Eingereicht)
- V-31-012 (Bundesvorstand (beschlossen am: 24.10.2019), Eingereicht)
- V-31-013 (Sibylle Steffan (KV Berlin-Neukölln), Eingereicht)
- V-31-016 (Franziska Brantner (KV Heidelberg), Eingereicht)
- V-31-024 (Bundesvorstand (beschlossen am: 24.10.2019), Eingereicht)
- V-31-037 (Bundesvorstand (beschlossen am: 24.10.2019), Eingereicht)
- V-31-039 (Franziska Brantner (KV Heidelberg), Eingereicht)
- V-31-039-2 (Manuel Sarrazin (KV Hamburg-Harburg), Eingereicht)
- V-31-044 (Erik Marquardt (KV Berlin-Treptow/Köpenick), Eingereicht)
Kommentare
Karl Friederichs:
Demokratie lebt davon, dass sich auch kleine Parteien bilden und entwickeln und neue, eigene Ideen in die politische Diskussion einbringen können. Ihr Ausschluss auf allen Ebenen würde m.E. die Staatsverdrossenheit fördern.
Auch in Deutschland kann man die Frage stellen, ob es neben den außen- und wirtschaftspolitisch konservativen Parteien der Demokraten und Faschisten und der nahe der DDR-Staatswirtschaft befindlichen Linken nicht besserer Möglichkeiten zur Artikulierung neuer Konzepte z.B. einer demokratisch-sozialen Politik bedarf.