Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | VR Im V-Ranking priorisierte Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 16.11.2024 |
Antragshistorie: | Version 3 |
Schengen retten: Schlagbäume in Europa in die Geschichtsbücher verbannen
Beschlusstext
Seit 16. September hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser an allen
bundesdeutschen Grenzen stationäre Grenzkontrollen veranlasst. Sie wurden mit
den Terroranschlägen von Mannheim und Solingen und der Asylantragslage
begründet. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete diese Maßnahme als "kleinen
Baustein einer ganz großen Mauer". Ein vielsagender Satz, den er später
zurücknahm.
Wir stehen zu der Verantwortung, sicherheitspolitische Antworten auf Bedrohungen
wie islamistische Terroranschläge oder grenzüberschreitende Kriminalität zu
finden. Die politischen Antworten müssen jedoch wirksam, angemessen und
rechtskonform sein. Dazu zählen eine bessere Ausstattung von Sicherheitsbehörden
und verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit ebenso, wie das Vorgehen
gegen Radikalisierung - auch im Netz.
Durch die dauerhafte Wiedereinführung stationärer Grenzkontrollen aber droht
nachhaltiger Schaden für die europäische Freizügigkeit. Deswegen setzen wir uns
gegen diese Entwicklung ein. Stationäre Binnengrenzkontrollen dürfen kein
Dauerzustand werden.
Das Streben nach einem geeinten Europa der Freizügigkeit und gelebten
Nachbarschaft ist die Grundlage für Wohlstand und Frieden in unserem Land. Es
ist das, wofür wir mit ganzer Kraft einstehen, denn es zählt zu den Grundfesten
unserer bündnisgrünen Politik und Überzeugung. Gerade in Deutschland, im Herzen
Europas, ist das Miteinander mit unseren Nachbarn Alltagsrealität der Menschen -
besonders in den Grenzregionen. Der offene, europäische Binnenmarkt ist ein
Grundpfeiler unserer Wirtschaft. Dass sich Menschen ganz selbstverständlich
grenzübergreifend bewegen können, um zur Arbeit zu gehen, einzukaufen oder
Freunde zu treffen, ist die Errungenschaft eines jahrzehntelangen europäischen
Einigungsprozesses.
Wir wollen nicht dabei zuschauen, wenn Stück für Stück die Steine aus dem
Fundament von Wohlstand und Freiheit gerissen werden.
Wir kritisieren, dass die Bundesinnenministerin ohne Absprache mit den EU-
Partnern oder der EU Kommission zu solchen Maßnahmen gegriffen hat. Oft wird
fälschlicherweise behauptet, dass durch stationäre Binnengrenzkontrollen die
Asylantragstellung verhindert werden kann.
Fakt ist, dass Asylsuchende durch Grenzkontrollen gar nicht abgehalten werden
und werden dürfen. An jeder Grenzkontrolle kann Asyl beantragt werden. Das ist
eine völkerrechtliche Pflicht und gehört zu den Grundlagen eines Rechtsstaats
und des Europarechts. Das Nichtzurückweisungsgebot gilt immer und überall und
ist unverletzlich. Doch zu viele politische Akteure wecken falsche Erwartungen
in der Bevölkerung, statt zu erklären und realistische Maßnahmen vorzuschlagen.
Gleichzeitig sind von solchen Grenzkontrollen besonders migrantisch gelesene
Personen betroffen. Dabei ist Racial Profiling rechtswidrig und diskriminierend,
weshalb wir uns dem entgegenstellen - an den Grenzen und im ganzen Land.
Außerdem setzen wir uns politisch für Fortbildung und Maßnahmen wie Ticket-
Systeme ein, um Gründe für Kontrollen nachvollziehen zu können.
Wir lehnen dauerhafte stationäre Grenzkontrollen an EU-Binnengrenzen ab. Sie
schränken nicht nur die Freizügigkeit, sondern das Miteinander und den Alltag
der Menschen in den Grenzregionen ein. Wir teilen die Sorge von Unternehmen um
wirtschaftliche Nachteile und erhebliche Kosten durch Verzögerungen in der
Lieferkette. Die Gewerkschaft der Polizei weist zurecht immer wieder darauf hin,
dass die stationären Grenzkontrollen massiv zu Lasten der eingesetzten
Beamt*innen gehen und diese letztlich eine geringe Wirkung haben. Gleichzeitig
fehlen die an den Grenzen eingesetzen Polizeibeamt*innen an anderer Stelle, wie
zum Beispiel an Bahnhöfen. Wenn Polizeibeamte in ineffektiven Maßnahmen gebunden
sind, statt effektiv eingesetzt zu werden, verschlechtern stationäre
Grenzkontrollen die Sicherheitslage in Deutschland.
Innereuropäische Grenzkontrollen sind nur in besonderen Ausnahmefällen
europarechtskonform und aus gutem Grund immer zeitlich begrenzt. Dauerhafte,
stationäre Grenzkontrollen bergen die Gefahr eines Dominoeffekts in Europa und
damit einer Erosion des Schengenraums und des Europarechts. Stattdessen sollte
auf alternative Maßnahmen wie mobile Kontrollen im Hinterland oder eine bessere
grenzüberschreitende Zusammenarbeit, zum Beispiel über die gemeinsamen Zentren
der Polizei in den Grenzregionen, gesetzt werden. Zeitlich begrenzte Kontrollen,
zum Beispiel im Rahmen von Sportgroßereignissen, können zudem wirksam sein, etwa
um Gewalttäter zu identifizieren.
Durch eine engere Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaften und
Nachrichtendiensten wollen wir unter Wahrung des Trennungsgebots eine starke
europäische Antwort auf die grenzüberschreitenden Bedrohungen durch Kriminalität
und Terrorismus geben. Wir GRÜNE schlagen deshalb beispielsweise die Gründung
einer Europäischen Nachrichtendienstagentur vor und die von uns seit Jahren
geforderte europäische Gefährderdatei darf nicht weiter verzögert werden.
Sicherheitspolitische Maßnahmen müssen immer solgfältig abgewogen werden.
Menschen- und Bürgerrechten sind ein hohes Gut und müssen geschützt werden.
Sicherheitspolitische Maßnahmen sollten möglichst auch präventiv wirken -
Vorsorge ist besser als Nachsorge.
Ein gemeinsamer Raum der Freizügigkeit und ohne Binnengrenzen braucht
kontrollierte Außengrenzen. Es wäre deswegen an der Zeit, endlich den Druck auf
diejenigen Mitgliedstaaten zu erhöhen, die Geflüchtete nicht systematisch
rechtsstaatlich kontrollieren. Es ist unerträglich, dass einige EU-Staaten
inzwischen systematisch auf illgeale Pushbacks und Gewalt setzen.
Europarecht muss immer und überall gelten. Die zuständigen Mitgliedstaaten sind
zu einer systematischen und rechtsstaatlichen Registrierung der Schutzsuchenden
verpflichtet, die nach rechtsstaatlichen und menschenwürdigen Regeln zu
garantieren sind. Eine Verteilung in Europa muss nach gerechten Kriterien
erfüllt sein. Dass Zurückweisungen von Schutzsuchenden an der Grenze nun auch in
Deutschland diskutiert werden, ist der völlig falsche Weg. Rechtsbrüche durch
EU-Staaten führen eben nicht zu einem besser organisierten Asylsystem, sondern
zu Chaos und Leid. Es ist nicht hinnehmbar, dass an Europas Grenzen permanent
europäische Werte und europäisches Recht verletzt werden.
Das wollen wir beenden. Vertragsverletzungsverfahren würden dazu beitragen,
diesen Druck zu erhöhen und Rechtsbrüche der EU-Staaten zu sanktionieren.
Europäische Zusammenarbeit bedeutet aber auch, dass eine solidarische
innereuropäische Verteilung von Geflüchteten und Verantwortung sichergestellt
wird. Deswegen ist es wichtig, dass auch die Bundesregierung sich an der
solidarischen Verteilung beteiligt. Das Ziel muss eine gerechte Verteilung von
Schutzsuchenden in Europa sein.
Es muss einfacher werden, nationale Behörden oder EU-Agenturen wie Frontex für
Rechtsverstöße zur Rechenschaft zu ziehen, beispielsweise durch eine eigene
Haftungsgrundlage. Opfer solcher Rechtsverstöße, insbesondere an den
Außengrenzen, brauchen juristische Unterstützung.
Der Vorschlag von Friedrich Merz, Menschen aus Syrien und Afghanistan
systematisch zurückzuweisen, ist europarechtswidrig. Statt echte Lösungen für
die Herausforderungen bei der Aufnahme und Versorgung Asylsuchender zu suchen
und diese umzusetzen, werden immer steilere Forderungen aufgestellt, die
liberale Demokratien schnell gar nicht mehr erfüllen können. Damit treibt die
Debatte Erwartungen voran, die nur die Feinde der Demokratie einlösen können.
Die Union gefährdet damit auch ihr eigenes europapolitisches Erbe. Wir GRÜNE
machen dagegen Politik in Verantwortung für Europa!